D’Adamo: Blutgruppendiät
von Jutta Muth und Udo Pollmer
Die gegenwärtig gültige Ernährungslehre propagiert die eine gesunde Ernährung für alle - allenfalls ergänzt durch besondere Bedürfnisse an bestimmten Nährstoffen im Wachstum, bei Schwangerschaft oder im Krankheitsfall. Da kommen die Überlegungen des Naturheilmediziners Peter D’Adamo gerade rechtzeitig. Um Menschen voneinander zu unterscheiden,
setzt er auf eine einfache, biologische Klassifizierung: die Blutgruppen. Ihnen ordnet D’Adamo nach dem Vorbild älterer Konstitutionslehren unterschiedliche charakterliche Eigenschaften sowie gesundheitliche Risiken zu, und er empfiehlt auch jeweils andere Speisepläne. In den USA hat D‘Adamo bereits viele Anhänger, die von seinen Heilerfolgen überzeugt sind. Seiner Theorie zufolge sind die verschiedenen Blutgruppen zu Zeiten entstanden, als unsere Vorfahren ihre Lebensverhältnisse drastisch ändern mussten. So habe sich aus der ursprünglichen Gruppe 0 der steinzeitlichen Jäger die Gruppe A beim Übergang zur Landwirtschaft und einer auf Getreide und Gemüse basierenden Ernährung gebildet. Blutgruppe B wiederum
sei noch jünger und ein Merkmal von Nomadenvölkern, die sich von Milch und Fleisch ihrer Tiere ernährten. Gruppe AB sei hingegen entstanden, als sich die letzten beiden Bevölkerungstypen vermischten.
Wie das Blut, so die Nahrung
Aus dieser Vorstellung schließt D‘Adamo darauf, dass gegenwärtig lebende Menschen entsprechend ihrer Blutgruppe auch am besten an die ursprüngliche Ernährung ihrer Vorfahren angepasst seien. Personen mit Blutgruppe 0 empfiehlt er daher fleischliche Kost und den weitgehenden Verzicht auf Getreide. Trägern der Gruppe A rät er zu einer eher vegetarischen
Ernährung und erlaubt Personen mit Gruppe B den Genuss von Milch, allerdings mit starken Einschränkungen.
D‘Adamos Empfehlungen gehen aber noch weiter. So beurteilt er nicht nur die verschiedenen Lebensmittelgruppen, sondern auch die einzelnen Lebensmittel. Hier bringt er die Lektine ins Spiel. Lektine sind Eiweiße mikrobiellen, pflanzlichen oder tierischen Ursprungs, die spezifisch an Kohlenhydrate binden. Dies gilt natürlich nicht nur für die isolierten Zucker, sondern auch für Zellen, die diese Zucker auf ihrer Oberfläche präsentieren. Genau dieses Phänomen ist bei den roten Blutkörperchen zu beobachten: Viele Lektine führen zur Agglutinierung des Blutes und einige von ihnen reagieren sogar blutgruppenspezifisch.
Diesen Umstand macht man sich schon seit Jahrzehnten in der biochemischen und medizinischen Analytik zu Nutze. Da nicht nur die Erythrozyten blutgruppenspezifische Zucker an ihrer Oberfläche präsentieren, sondern viele andere Zellen und Zellbestandteile ebenso, folgert D’Adamo, dass die Lektine erhebliche gesundheitliche Konsequenzen haben müssen. Deshalb ordnet er jeder Blutgruppe die Lebensmittel entsprechend ihrem Gehalt an Lektinen zu. Dabei unterscheidet er die Nahrung als jeweils „sehr bekömmlich“, „neutral“ oder „zu vermeiden“.
Es ist nicht alles Gold...
Soweit das Konzept von D’Adamo. Die Kritik durch die DGE und andere Organisationen blieb nicht aus. Genser und Elmadfa (Universität Wien) werfen D’Adamo beispielsweise vor, dass eine Blutgruppendiät, „die alle Menschen letztlich in vier Typen klassifiziert, ... keine geeignete individuelle Ernährungsweise darstellt“. Wer selbst im Glashaus sitzt - also die Nährwert-empfehlungen von DGE und ÖGE als Maßstab verwendet, um D’Adamos Ratschläge zu beurteilen -sollte zumindest in diesem Punkte etwas zurückhaltender reagieren. Der Vorwurf, dass es an wissenschaftlichen Beweisen für die Wirksamkeit des Konzepts von D’Adamo fehle, wiegt da schon schwerer. Selbst wenn es sicherlich außerhalb der Möglichkeiten eines niedergelassenen Arztes liegt, nebenbei noch entsprechende Studien zu finanzieren und durchzuführen. Dies wäre eher Aufgabe der Universitäten und der Fachorganisationen.
D’Adamos Interpretation des Ursprungs der Blutgruppen ist zweifellos diskussionswürdig. Es mag auch sein, wie Genser und Elmadfa betonen, dass diese Auffassung „in krassem Gegensatz zur gängigen wissenschaftlichen Ansicht“ steht. Aber auch diese ist nur eine Theorie. Sobald es jedoch um Tatsachen geht, müssen Verbraucher und interessierte Laien erwarten können, dass die von D’Adamo mitgeteilten Fakten im Großen und Ganzen zutreffen. Das ist leider nicht immer der Fall. So bringt er viele Lebensmittel-Lektine mit einzelnen Blutgruppen in Verbindung, obwohl diese gar nicht blutgruppenspezifisch reagieren. Die meisten Lektine reagieren mit allen Blutgruppen in gleicher Weise bzw. reagieren mit anderen Blutbestandteilen wie den Lymphozyten.Zurecht beklagt die DGE daher zahlreiche falsche Zuordnungen, die grundsätzliche Zweifel an D’Adamos Empfehlungen wecken. Nur wenige mit Lebensmitteln zugeführte Lektine reagieren wirklich blutgruppenspezifisch. Allerdings fehlen bisher systematische Untersuchungen. Deshalb erhebt die Tabelle mit blutgruppenspezifischen Lektinen in Nahrungsmitteln keinerlei
Anspruch auf Vollständigkeit. Kaum nachvollziehbar ist außerdem, weshalb D‘Adamo nicht zwischen rohen Lebensmitteln und ihren verschiedenen Zubereitungsformen unterscheidet. Schließlich werden manche Lektine durch Hitze, Fermentation oder Keimung inaktiviert.
Tägliche Lektin-Portion garantiert
Die Auffassung der DGE, im sachgerecht zubereiteten Lebensmittel seien gewöhnlich keine wirksamen Lektingehalte mehr zu erwarten, kann so aber auch nicht stehen bleiben. Gerade die von der Gesellschaft propagierte Rohkost enthält auf jeden Fall reichlich aktive Lektine. Viele Lektine sind außerdem hitzestabil. Die Lektine zahlreicher Lebensmittel hielten sogar
einer Autoklavierung (Erhitzen unter hohem Druck) stand; darunter waren die von Karotten, Äpfeln, Mais, Weizenkleie, Weizenbrot, Kürbissamen und Bananen. Durch Hitze wurde die Aktivität des Bananen-Lektins sogar noch erhöht. Aktive Lektine konnten selbst in gerösteten Erdnüssen, Reiscrispies und Cornflakes nachgewiesen werden. Egal ob roh oder gekocht: Jede ballaststoffreiche Ernährung bedeutet eine lektinreiche Ernährung. Aus einer US-amerikanischen Studie ist
bekannt, dass 30 Prozent aller frischen sowie verarbeiteten Lebensmittel signifikante Mengen an Lektinen enthalten. Die meisten Lektine sind gegenüber den Verdauungsenzymen resistent. Damit muss ernsthaft die Möglichkeit erwogen werden,
dass Lektine bei chronischer Zufuhr biologische Effekte entfalten, auch wenn vielleicht nur einige wenige Lebensmittel blutgruppenspezifisch reagieren. Bereits der Verzehr einer Tomate oder eines Esslöffels Weizenkeime hat zur Folge, dass die gesamte Mundschleimhaut mit Lektinen ausgekleidet wird – völlig unabhängig von der Blutgruppe des Essers. Bei vielen
Menschen reagieren die Lektine auch mit den Glyco-Lektinkonjugaten des Speichels sowie der Plaque auf den
Zähnen. Auf diesem Wege verhindern beispielsweise die Lektine von Avocados und Weizen (WGA), dass sich das Kariesbakterium Streptococcus mutans an die Plaque anheftet.
Darm im Visier
Dabei sind prinzipiell auch blutgruppenspezifische Effekte möglich, da nicht nur die roten Blutkörperchen die Merkmale (Antigene) der jeweiligen Blutgruppe aufweisen. Auch die Schleimhäute des Magen-Darm-Traktes sowie deren Enzyme (z.B. die Hydroxylasen des Bürstensaums) präsentieren ebenfalls Antigene, d.h. spezifische Zucker auf ihrer Oberfläche. Diese
locken vermehrt solche Darm-Bakterien an, die in der Lage sind, die blutgruppenspezifischen Zucker abzuspalten
und sie zur eigenen Ernährung zu nutzen. Darmbewohner, welche die Galactose der Blutgruppe B nutzen, sind bei Trägern der Blutgruppe B um fünf Zehnerpotenzen aktiver. Allerdings binden die meisten Lektine an die Darmwand und zwar völlig unabhängig von der Blutgruppe. Dort reagieren sie auch mit den Oligosacchariden der Darmenzyme und inaktivieren diese. Das gilt auch als Grund dafür, dass Mucosazellen einem schnellenTurn-over unterliegen.
Eiweiße mit Risikopotenzial
Das Weizenkeimlektin WGA spielt bei der Entstehung von Allergien wahrscheinlich eine wichtige Rolle. Es ist nicht nur in der Lage, Eiweiße und andere Nahrungsbestandteile durch die Darmwand zu transcytosieren, sondern vermag auch die Mastzellen zu degranulieren und Histamin freizusetzen. Zu vergleichbaren Reaktionen kommt es auch, wenn Lektine eingeatmet werden. Daher ist auch ein möglicher Zusammenhang mit dem Auftreten von Asthma nicht auszuschließen. Vieles deutet darauf hin, dass die Schädigung der Darmmucosa durch Lektine aus dem Weizengluten die Ursache von Zöliakie darstellt. Wenn Enzyme in der Mucosa des Darmes inaktiviert werden, führt dies zwangsläufig zu Intoleranzen. Weizengluten enthält hitzestabile Lektine, welche an die Mucosamembran von Zöliakiepatienten binden – im Gegensatz zu Gesunden, deren Mucosa sie verschonen. Bei dem ursächlichen Lektin handelt es sich mutmaßlich nicht um das WGA, denn die fraglichen Stoffe überstehen sogar eine Autoklavierung. Andererseits weisen Zöliakiepatienten deutlich höhere Titer an Antikörpern gegen WGA auf. Mit der Lektinhypothese lassen sich darüber hinaus zwei scheinbar widersprüchliche Beobachtungen bei einer Zöliakieerkrankung erklären: Allergie und Enzymmangel. Beide Effekte werden hier ebenfalls von Lektinen ausgelöst. Lektine sind wahrscheinlich auch an anderen Intoleranzen beteiligt. Bei einem Patienten trat nach Verzehr von Soja ein Syndrom auf, das von einer Zöliakie nicht zu unterscheiden war. Zwar ließen sich keine Restaktivitäten von Lektinen nachweisen, andererseits schützte die Gabe spezifischer Soja-Lektin-Zucker wie Galactose oder Lactose vor den Symptomen. Das aber ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Lektine beteiligt waren. Ihre Wirkung lässt sich spezifisch aufheben, indem passende Zucker als Reagenz zugegeben werden. Der Entstehung von rheumatoider Arthritis soll die Translokation gramnegativer Bakterien aus dem Darm in Blut und Lymphe vorausgehen. Diese wiederum wird typischerweise durch Lektine wie WGA ausgelöst. Die Bakterien provozieren dabei eine Autoimmunreaktion, die schließlich zum Ausbruch der Krankheit führt.
Außerdem bilden Rheumapatienten – offenbar genetisch bedingt - einen Antikörper, dem endständig ein Galactosemolekül fehlt. Der endständige Zucker ihres Antikörpers, das N-Acetyl-Glucosamin, wird vom Weizenkeimlektin agglutiniert. Bei manchen Patienten verschlimmert sich die Symptomatik, wenn sie Weizen zu sich nehmen.
Daneben können Lektine auch zur Entwicklung von Diabetes mellitus Typ 1 beitragen. Aus Tierversuchen ist bekannt, dass das WGA an die Insulinrezeptoren der Bauchspeicheldrüse bindet. Das Lektin ahmt zahlreiche Effekte des Insulins nach und reagiert mit den Insulinrezeptoren der Muskelzellen. Außerdem blockiert WGA die Lipolyse und schädigt schließlich die
Inselzellen der Bauchspeicheldrüse. Es ist davon auszugehen, dass Lektine mittels ihrer Fähigkeit, an Organe, Enzyme oder Rezeptoren zu binden, auch eine Rolle als pathogenetischer Faktor spielen. So bindet das WGA an die glomeralen Kapillaren
der Niere. Einige Lektine verursachen Veränderungen in der Morphologie sowie Funktion endokriner Organe wie der Schilddrüse und des Thymus.
Erfolg nicht unbegründet
Es gibt also gute Gründe, den Hinweis D’Adamos auf die Lektine als mögliche Krankheitsursache ernst zu nehmen – auch wenn ihre Rolle meist gerade nicht blutgruppenspezifisch ist. Leider gilt dies nicht für seine Empfehlung, regelmäßig blutgruppenspezifische Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen. Wie es der Zufall so will, können die teuren Präparate direkt von D’Adamo per Internet bezogen werden. Seine Internetseite bietet aber noch mehr: Jede Menge Infos zum Thema Lektine und Blutgruppen inklusive einer aktuellen Lektin-Datenbank, die im Gegensatz zu seinen recht einfach gestrickten Publikumsbüchern wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Sie ist selbst für solche Zeitgenossen eine echte Fundgrube, die D’Adamos Thesen ablehnend gegenüberstehen. Schon allein deshalb können D’Adamo die Grenzen seiner Theorie nicht verborgen geblieben sein.
Womöglich ist der Erfolgsautor selbst gar nicht so von seinen Ideen überzeugt. Schließlich schränkt er -im Widerspruch zu seinen Theorien - bei allen Blutgruppen den Konsum von Milch und Weizenvollkorn ein. Damit werden die beiden wichtigsten Ursachen für Verdauungsprobleme beseitigt. Sein Erfolg in den USA und Deutschland kommt somit nicht überraschend. In den USA ist die Lactoseintoleranz weit verbreitet, da der genetische Ursprung vieler Bürger in Afrika, Asien
und Lateinamerika liegt. Diese Menschen wurden von der amerikanischen Gesundheitsaufklärung trotzdem zum Milchtrinken angehalten. In Deutschland war es vor allem die Propaganda für unverdauliche und lektinhaltige Weizenkörner, von der D’Adamo seine Leser erlöst. Vielleicht erklärt das seinen Erfolg besser als seine Blutgruppentheorie.